Homo Digitalis: Gibt es das „Dr. Jekyll und Mr. Hyde – Phänomen“ für digitale Algorithmen?
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Homo Digitalis: Gibt es das „Dr. Jekyll und Mr. Hyde – Phänomen“ für digitale Algorithmen?

Homo Digitalis: Gibt es das „Dr. Jekyll und Mr. Hyde – Phänomen“ für digitale Algorithmen?

Salvete omnes! Wir sind heute Zeugen der Entstehung einer neuen Menschengattung: des Homo Digitalis. [1]

Digitalisierung ist mehr als nur eine neue technische Anwendung. Sie geht viel weiter, denn sie ist als eine spezifische Weise anzusehen, die Wirklichkeit wahrzunehmen, zu interpretieren und in ihr zu wirken. Fast alle technischen Geräte, Maschinen und Apparate aller Lebensbereiche sind heute mit digitalen Sensoren, digitaler Datenverarbeitung und digitaler Aktorik [2] ausgestattet. Das ihnen zugrunde liegende binäre Zeichensystem ermöglicht einen globalen Datenaustausch. Man schätzt, dass sich jeder Mensch weltweit jederzeit mit mindestens 140 Sensoren umgibt. Die Zahl der aufgenommenen und verarbeiteten Daten verdoppelt sich alle zwei Jahre. All dies macht Big Data aus.

Die Tiefe und Weite des Einflusses der Digitalisierung auf uns Menschen zeigt auf, dass dies auch unser bestehendes Weltbild beeinflussen wird. Sehen wir zum Beispiel die Lifelogging-Armbänder an. Diese sammeln zahlreiche Werte wie Blutdruck, Puls und andere medizinische Daten, vergleichen diese mit persönlichen Werten der Vergangenheit sowie statistischen Risikokonstellationen und geben Zeichen der Beruhigung („alles im grünen Bereich“) oder fordern zum baldigen oder sofortigen Arztbesuch auf. Medizinisch betrachtet kann dies sinnvoll sein, gar Leben retten. Wer diese Technologie jedoch Lifelogging und nicht „Blutdruck- und Pulsprotokoll“ nennt, kann in die empiristische Falle laufen: Als könnten ein paar gemessene und quantifizierbare Werte das Protokoll des Lebens schreiben und ein Selbstbild zeichnen.

Digitalisierung ist ein Gewinn, wenn die digitale Sicht auf das Leben neben andere Sichtweisen, darunter auch philosophische, soziale und theologische Aspekte, gestellt werden und diese nicht zu ersetzen versucht. Denn es ist doch klar, dass verschiedene Perspektiven das Leben reicher machen und nicht der Blick aus nur einer Richtung. Dahinter steht die Einsicht, dass das Leben reicher ist, als das, was wir digital erfassen können. Big Data, die digitale Verarbeitung von massenhaften Daten in Algorithmen, ermöglicht Handlungsprognosen mit erstaunlicher personenbezogener Präzision. Algorithmen können heute schon mit hoher Wahrscheinlichkeit wissen, welche grössere Konsumentscheidung ich morgen treffen werde, welche Studien- oder Berufswahl besser zu mir passt, sehen, welcher Partei ich demnächst meine Stimme geben werde und ob es erfolgversprechend ist, sich auf eine Partnerschaft mit Person xy einzulassen. Wer wird sich diese Prognose nicht ansehen und ihr Glauben schenken, wenn ihre Treffsicherheit statistisch „glaubhaft“ nachgewiesen wird? Damit verkäme Glaube zu einem Vertrauen auf Prognosen aus der Korrelation massenhafter personenbezogener und personenunabhängiger statistischer Daten.

Bislang verliessen wir uns auf existenzielle Erfahrungen, wissenschaftlich belastbare Erkenntnisse, „gute Gründe“ und den „Einfall zur rechten Zeit“. Und wenn wir fromm waren, beteten wir um Gottes Eingabe der Weisheit für rechte Entscheidungen. In Zeiten von Big Data müssen wir unseren bestehenden Erfahrungsschatz neu durchdenken: Warum sollte es nicht im Einklang mit unseren alten klassischen Entscheidungsfaktoren stehen, logische Schlüsse aus einer Vielzahl von Daten (sogenannte induktive Schlüsse) oder aus allgemeinen Regeln (sogenannte deduktive Schlüsse) zu ziehen? Genau das tun Algorithmen. Eine problematische Lebenshaltung beginnt erst da, wo man sich allein auf solche Schlüsse verlässt und nicht für möglich hält, dass alles auch ganz anders sein könnte. Ein „Einfall“, eine „kreative Idee“, eine „Offenbarung“ (sogenannte abduktive Schlüsse) können gewichtiger, verantwortlicher und letztlich überzeugender sein als Prognosen aus Vergangenem. Diese Möglichkeit gilt es offenzulassen. Alles andere wäre der selbst gewählte Verzicht auf Freiheit.

Wäre Jesus von Nazareth ans Kreuz gegangen, wenn er auf Handlungsempfehlungen von Big-Data-Algorithmen gehört hätte? Oder hätten diese Algorithmen – die Christentumsgeschichte „vorausahnend“ – gerade deswegen den Weg ans Kreuz empfohlen? So oder so: Er hat sich frei, im Glauben, entschieden. Alles andere wäre Selbstaufgabe und Gleichschaltung mit Algorithmen gewesen. Heute, in Zeiten der Digitalisierung, haben wir zu entscheiden: Wie verbinden wir Entscheidungsvorbereitung durch Algorithmen und verantwortete Freiheit?

Mit der Nutzung digitaler Technologien erweitern wir unsere Handlungsmöglichkeiten – wer profitiert nicht von der schnellen Verfügbarkeit verstecktester Wissensbestände oder von der Orientierungskraft von digitalen Strassenkarten inklusive Wegführung an allen Staus vorbei? Zugleich schmälern wir unsere Privatsphäre: Mit GPS-Sensoren teilen wir anonymen Datenbrokern mit, wann wir uns wo wie lange mit wem aufgehalten haben. Diese Daten sind für andere Gold wert. Unser Internetnutzungsverhalten wird durch Webtracking aufgezeichnet. Es verrät viel über unsere derzeitigen Interessen und Pläne. Einerseits ermöglicht die Digitalisierung, die vereinfachte Anbindung/Inklusion für Menschen mit Behinderung und Ökonomien des Südens an global vernetzten Arbeitsprozessen. Zugleich kann es auf einem globalen Arbeitsmarkt zu Dumpingeffekten kommen. Anderseits erlauben digitale Medien ein neues Mass niederschwelliger multilateraler Kommunikation, politischer Meinungsbildung und auch gesellschaftlicher Partizipation. Zugleich ist spätestens seit den Präsidentschaftswahlen 2016 in den USA offensichtlich, welche neuen Wege der (politischen) Manipulation durch digitale Medien eröffnet werden. Bank- und Kundenkarten verraten das Konsumverhalten, Mikrofone und Kameras in Smartphones und Fernsehern halten fest und interpretieren, was wir sagen und wie wir uns fühlen. Informationelle Selbstbestimmung und Privatsphäre sehen anders aus. Dabei geht es hier um die freie Persönlichkeitsentwicklung, die durch die Nutzung all dieser auf Personen beziehbaren Daten gefährdet ist – und doch beschreiten wir diesen Weg.

Denn die obigen Beispiele zeigen auf, dass jeder für sich eine Kosten-/Nutzen-Abwägung durchführen muss. Digitalisierung ist per se weder gut noch böse! Dies liegt eben in den Händen der Menschen. Diesen Herausforderungen liegt eines zugrunde: Die digitale Technologie basiert auf dem binären Zeichensystem, das global, kulturübergreifend und in allen Lebensbereichen Akteure und Dinge kommunikativ verbindet. Die Algorithmen ermöglichen, dass Maschinen und Alltagsgegenstände aufgrund der Programmierungen Zusammenhänge erkennen können (predictive Modelling und/oder Artificial Intelligence (AI)).

Digitalisierung verändert somit unsere Bilder von uns selbst, unser Entscheidungsverhalten, unsere kommunikativen und sozialen Ordnungen. Digitalisierung durchdringt bereits unser aller Alltag und Leben. Wir alle werden uns schwerlich in den nächsten Jahren der Umwandlung zum Homo Digitalis entziehen können. Daher kann die Einstiegsfrage mit einem eindeutigen „Ja“ beantwortet werden. Die verantwortete Freiheit und die dazugehörige ethische Handlungsweise der Digitalisierung können nicht exklusiv an Algorithmen abgetreten werden. Es gibt einen Zwiespalt zwischen Gut und Böse.

Daher gilt es, diese neuen Wirklichkeiten und Chancen nicht nur mit dem Wissen um technische Möglichkeiten zu verstehen. Der Homo Digitalis ist und bleibt in erster Linie Mensch, der bestrebt sein sollte exklusiv die „Dr. Jekyll-Eigenschaften“ der Digitalisierung zu fördern. Philosophischethische Grundfragen sind untrennbar mit der Digitalisierung verwoben und müssen unser Handeln immer getreu dem Kant’schen Kategorischen Imperativ [3] beeinflussen! Jeder Einzelne von uns steht in der Eigenverantwortung, denn diese kann man nicht weg delegieren. Daher meine lieben Leserinnen und Leser gestalten Sie die Digitale Transformation aktiv mit und lassen Sie sich nicht einfach passiv treiben.

Gastbeitrag von Dr. Gilles Ritter, Group CIO der Testex AG, Swiss Textile Testing Institute

 

1 Homo Digitalis (Latein): „der digitale Mensch“

2 Aktorik bezeichnet das Erzeugen einer Bewegung oder einer Verformung und wird in vielen technischen Disziplinen wie z. B. der Regelungstechnik, Automatisierungstechnik oder Mechatronik verwendet.

3 Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. (Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu.)

 

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