10 Dez Industrie 4.0 – disruptive Veränderung mit Vorankündigung?
Produzierende Unternehmen sind es sich im Qualitätsland Schweiz gewohnt, ihre Produktionsschritte kontinuierlich auf Effizienz- und Qualitätsverbesserungen hin zu überprüfen. Ist die Industrie 4.0 also für sie nichts mehr als kalter Kaffee, eine Disziplin die sie längst für sich entdeckt haben? Oder ist die damit einhergehende 4. Industrielle Revolution vielleicht doch das, was von Analysten seit Jahren prophezeit wird? Ein durch neue Technologien geprägter, tiefer Einschnitt in die Wertschöpfung, der ganze Geschäftsmodelle in Frage zu stellen vermag?
Eines hat sie ihren Vorgängern voraus, die 4. Industrielle Revolution: Sie wird nicht erst im Nachhinein, sondern bereits im Vorfeld der sich anbahnenden disruptiven Ereignisse als solche bezeichnet. Zu Recht? Sieht man sich die Geschwindigkeit an, mit der sich neue Technologien entwickeln und die Art und Weise, wie diese bereits in den vergangenen 10 Jahren unser Leben und unsere Arbeit nachhaltig verändert haben, dann lohnt es sich zumindest einmal genauer hinzuschauen.
Wertschöpfung in neuen Dimensionen
Im globalisierten Marktumfeld haben sich Schweizer Produktionsunternehmen längst als Lieferanten von Produkten höchster Präzision und Qualität einen Namen gemacht. Dies nicht zuletzt, weil sie ihre Produktionsschritte kontinuierlich auf den Prüfstand gestellt und durch den Einsatz neuer Technologien weiter optimiert haben. In der sogenannten Industrie 4.0 geht es aber nicht länger nur um die Optimierung einzelner Bausteine in der Wertschöpfung, sondern um die Neuerfindung und die komplette Informatisierung des gesamten Wertschöpfungsprozesses und des Lebenszyklus eines Produktes an sich: von der Forschung und Entwicklung, über die Beschaffung des Rohmaterials, die Logistik, die Fertigung, bis hin zur Buchhaltung, dem Kundendienst und den After-Sales Dienstleistungen.
Im Grundsatz stützt sich die Industrie 4.0 dabei auf vier grundlegende Prinzipien, mit denen Unternehmen ihre Organisation auf die Implementierung von Industrie 4.0-Szenarien hin überprüfen können:
Vernetzung: Maschinen, Geräte, Sensoren und Menschen vernetzten sich und kommunizieren über das Internet der Dinge (engl. Internet of Things, IoT) miteinander.
Informationstransparenz: Durch Sensordaten werden Informationssysteme angereichert und so ein virtuelles Abbild der realen Welt erstellt.
Technische Assistenz: Durch die Bereitstellung von aggregierten und visualisierten Informationen ermöglichen Assistenzsysteme fundierte Entscheidungen, eine schnellere Lösung auftretender Probleme sowie Unterstützung bei der Erledigung von anstrengenden, unangenehmen oder gefährlichen Arbeiten.
Dezentrale Entscheidungen: Sogenannte cyber-physische Systeme sind in der Lage, eigenständige Entscheidungen zu treffen und Aufgaben möglichst autonom zu erledigen. Nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel bei Störungen oder Zielkonflikten, wird die Aufgabe an eine höhere Instanz, in der Regel an den die Systeme überwachenden Menschen, übertragen.
Schöne neue Welt!
In der Industrie 4.0 operieren künftig also sämtliche Einheiten einer Firma eng miteinander vernetzt. Dabei limitiert sich die Vernetzung nicht länger auf die Vorgänge innerhalb des Unternehmens. Auch Lieferanten, Forschungspartner und die fertigen Produkte, die beim Kunden im Einsatz stehen, werden eingebunden. Dank dem Internet der Dinge können einzelne Maschinen untereinander Informationen austauschen, sich gegenseitig steuern, gleich selber beim Lagersystem die benötigten Komponenten anfordern oder gar den erforderlichen Transport von Endprodukten mit Transportmitteln anstossen. Abläufe werden automatisiert koordiniert und die Materialversorgung autonom gesteuert. Durch die technologische Entwicklung ergibt sich daraus unter anderem auch ein wichtiges, neues Geschäftsfeld: das der präventiven oder vorausschauenden Wartung. Zukünftig werden Geräte und Maschinen selbstständig erkennen, wenn etwas nicht mehr rund läuft und entsprechend demnächst eine Überholung notwendig wird. In solchen Fällen wird der Hersteller oder die mit der Wartung beauftragte Drittfirma automatisch benachrichtigt. Benötigte Ersatzteile werden automatisch bestellt und der Ersatz kann vorgenommen werden, bevor das Gerät oder die Maschine aufgrund eines Fehlers ausfällt. So können Wartungseinsätze besser geplant und kostbare Standzeiten vermieden werden. Diese Anwendungsszenarien werden auch im Privatgütermarkt neue Standards setzen und neues Potenzial für innovative Wartungsverträge bieten. Stellen wir uns doch nur einmal vor, dass unsere Heizung künftig den Heizungsmonteur frühzeitig aufbietet, bevor sie sich mitten im Winter bei minus 10° C – gemeinsam mit hundert anderen Heizungen im Einzugsgebiet des Monteurs – herunterfährt. Welch schöne neue Welt!
Wenn Defizite schonungslos aufgedeckt werden
Die Realisierung solcher Szenarien verlangt nach einem soliden Fundament in den technologischen Schlüsseldisziplinen der Industrie 4.0. Aus unserer Erfahrung stossen Unternehmen dabei leider oft und allzu schnell auch auf die Defizite der bestehenden IT-Infrastruktur. Ist der Wunsch nach einer Modernisierung der Prozesse auf der strategischen Ebene auch noch so gross: Solange unflexible Systeme und veraltete IT-Prozesse im Unternehmen einen durchgängigen, automatisierten Datenfluss verhindern, wird der Einzug der Industrie 4.0 im Unternehmen nicht gelingen.
Solides Fundament: Ein modernes, leistungsfähiges ERP-System
Das Enterprise-Resource-Planning System (ERP) als Herzstück der IT-seitigen Prozessabwicklung im Unternehmen verliert auch in der laufenden Transformation nicht an Gewicht. Im Gegenteil! Industrie 4.0-Anwendungen entfalten ihr Potenzial nur dann vollständig, wenn der Unterbau – sprich das ERP-System – entsprechend leistungsfähig ist. Schliesslich müssen die auf der Produktions- und Logistikebene zusätzlich generierten Daten auch verarbeitet und in einen sinnvollen Kontext gestellt werden. Bevor Unternehmen also über die Einführung von Industrie 4.0-Anwendungen nachdenken, gilt es zuerst zu prüfen, ob eine Modernisierung des ERP-Systems nicht der erste logische Schritt auf dem Weg in Richtung Digitalisierung ist.
Daten, Daten und überall Daten
Ein weiterer wichtiger Baustein im Industrie 4.0-Konzept ist das Internet of Things (IoT). Mit dem Ziel, ein präzises digitales Abbild der realen Welt zu zeichnen, werden in der Industrie 4.0 über IoT von einer Vielzahl verschiedener Komponenten nahezu permanent Daten generiert. Damit aus diesem riesigen Volumen an Informationen (Big Data) die relevanten Inhalte erkannt, extrahiert und in Echtzeit analysiert werden können, ergibt sich eine bislang noch nie dagewesene Anforderung an die Leistungsfähigkeit der Datenverarbeitung. Da die verschiedenen miteinander kommunizierenden Objekte im neuen Industriekonzept zudem nicht selten räumlich voneinander getrennt im Einsatz stehen und eine Verkabelung aufgrund der schieren Menge an Objekten ohnehin undenkbar wäre, muss die Kommunikation über kabellose Kommunikationsmethoden, z. B. über WLAN oder das Funknetz, stattfinden. Eine ganz zentrale Rolle nimmt hier Cloud-Computing ein. Im Vergleich zu innerbetrieblichen Serverlösungen können durch die Nutzung von Cloud-Computing Diensten wesentlich grössere Datenmengen in kürzerer Zeit verarbeitet und entsprechende Methoden zur Analyse, Planung, Regelung und Optimierung der Abläufe implementiert werden. Andererseits manifestiert sich in der Industrie 4.0 auch ein Gegentrend zur früher verfolgten absoluten Zentralisierung der Datenverarbeitung. Mit Edge-Computing beispielsweise werden die wesentlichen Daten wieder direkt an der Quelle verarbeitet und anschliessend als aggregierte Sicht in die Cloud oder das Rechenzentrum für weitere Analysen oder die Ergreifung von korrigierenden Massnahmen übertragen. Damit werden Verzögerungen und Probleme bei der Bandbreite der Datenübertragung vermieden.
Cyber-physische was?
Während mit IoT und Cloud-Computing grundsätzlich nur die notwendige Kommunikationsstruktur geschaffen wird, sind sie die Kernerrungenschaft in der Industrie 4.0: Sogenannte cyber-physische Systeme (CPS). Ein hochtrabender Begriff, der der tatsächlich dahinterstehenden Komplexität effektiv nur annähernd gerecht wird.
Cyber-Physische Systeme (CPS) beschreiben einen Verbund an mechanischen und elektronischen Komponenten, mit eingebetteter Software und Elektronik, die mit Sensoren und sogenannte Aktoren (Antriebselemente) ausgestattet und über das Internet der Dinge mit der Außenwelt verbunden sind. Mithilfe der Sensoren verarbeiten CPS-Systeme Daten aus der physikalischen Welt – also erfasste Komponenten- und Umweltinformationen – und machen sie für netzbasierte Dienste verfügbar. Die Aktoren wiederum sind in der Lage, direkt auf Vorgänge in der physikalischen Welt einzuwirken, die angeschlossenen Komponenten also selber zu steuern. Ausgestattet mit einer IP-Adresse ist es CPS-Systemen dabei auch möglich, weltweit verfügbare Daten und Dienste zu nutzen und in die Steuerungsprozesse zu integrieren. Verschiedene Mensch-Maschine-Schnittstellen (Touchdisplays, Sprach- und Gestensteuerung) erlauben zudem eine einfache Fernüberwachung und -wartung der sich selbst steuernden Systeme.
Herausforderung und Chance zugleich
Während die Hauptanforderungen an Schweizer Produktionsunternehmen dieselben bleiben – Präzision, Qualität, Flexibilität und Effizienz – ergeben sich in der Industrie 4.0 auf der technologischen Ebene effektiv neue, teils disruptive Handlungsfelder, die auch an der Schweizer Produktionslandschaft nicht spurlos vorbeiziehen werden. Der flächendeckende Einzug von Informations- und Internet-Technologien bietet dem bereits hochtechnologisierten Schweizer Werkplatz aber auch einmal mehr spannende Entwicklungs- und Profilierungschancen.
(Beitrag von Tanja Regli)
Zuerst erschienen in topsoft-Fachmagazin 04/2017
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